Über das Gespräch mit Zeitzeugen berichtet Sabine Hannemann in der rp:

Rheinberg „Demokratie stärken“: Roland Schreyer (65) hat Schülern am Amplonius-Gymnasium davon erzählt, wie er damals kurz vor dem Fall der Mauer mit seiner Familie aus der DDR in den Westen geflohen ist – eine sehr gefährliche Aktion.

Rund 60 Schülerinnen und Schüler des Rheinberger Amplonius-Gymnasiums erlebten am Freitagmorgen eine Deutschstunde der lebendigen Art. Roland Schreyer gelang vor 33 Jahren die Flucht mit seiner Familie aus der damaligen DDR. Stille herrschte im Forum, als er aus seinem Leben im real existierenden Sozialismus berichtete, den seine jungen Zuhörer vielleicht vom Hörensagen kennen. Wenn überhaupt.

Ihm sei es wichtig, junge Menschen davon zu erzählen. „Um Geschichtsbewusstsein zu festigen und Demokratie zu stärken. Das ist wichtig, um Demokratie zu verteidigen“, erklärt Schreyer, der seinen familiären Lebensmittelpunkt in Voerde hat. Auf Einladung von Geschichtslehrer Ingo Samp liefert er den Stoff, aus dem das Leben jenseits der deutsch-deutschen Grenzen bestand: Mangelwirtschaft und der Traum vom „goldenen Westen“, vom „Rübermachen“, um ein Leben in Freiheit zu leben.

Der eher abstrakte Begriff Demokratie bekommt Profil. Wenn Jugendliche in der DDR sich mit Freunden trafen, konnte das gefährlich werden. Alkohol macht unvorsichtig. Dann kommen persönliche, aber politisch unliebsame Ansichten leicht über die Lippen. „Es gab viele inoffizielle Mitarbeiter der Stasi, die ihre Freunde verraten haben“, so Schreyer.

„Die Begriffe Ossis und Wessis sind überholt“

Er liefert Beispiele aus dem Alltag, die verdeutlichen, wo nach Meinung der Staatsführung der Klassenfeind zu bekämpfen war. Harmlose Filzstifte aus dem Westen, damals eine Errungenschaft, sorgten schon für Sanktionen. „Die DDR war eine Mangelwirtschaft“, so Schreyer.

Vor allem die Mauer, der so genannte „antifaschistische Schutzwall“, sollte den Klassenfeind abhalten und kostete viel Geld, „weil die Grenze ständig ausgebaut wurde“, so Schreyer. Zum Minenfeld kamen später die Selbstschussanlagen und perfide Signalzäune. „Der Sicherheitsaufwand war hoch. Die Grenze hat richtig viel Material geschluckt“, so Schreyer.

Als gelernter Elektriker und Zivilangestellter der DDR-Grenztruppen hatte er Einblicke. Er war zuständig für die Instandhaltung der Grenzübergangsstelle Marienborn-Helmstedt. Vieles sei damals selbstverständlich gewesen, ohne hinterfragt zu werden. 1981 begann er ein Pädagogikstudium, der Zauber der DDR kam ihm abhanden. Der Wunsch zu fliehen, wurde stärker. „Wirtschaftliche Unzufriedenheit ist der Anfang jeder Flucht“, so der 65-Jährige.

Als 1987 zwischen DDR und BRD Reiseerleichterungen beschlossen wurden, kehrte er 1988, kurz vorm Fall der Mauer, aus dem Westen nicht mehr zurück. Seine Familie wurde unter Druck gesetzt, sein Vater verlor seine Arbeit. Ihm wurde in der vierwöchigen Rückgewinnungsphase Straffreihit angeboten. Seine Frau wurde bedrängt, sich von ihm, dem Republik-Flüchtling, scheiden zu lassen. Sämtliche Kontakte wurden kontrolliert, wie später seine Stasi-Akte bestätigte.

Schreyer entwickelte einen Plan, seine Familie in den Westen zu holen. Im Sperrzonengebiet Harbke in Sachsen-Anhalt kannte er jeden Baum, jeden Strauch und auch den verrohrten Grenzbach Wirbke. Eine erste Erkundung des Fluchtweges gab ihm Gewissheit. „Das Ding könnte ganz gut klappen“, dachte er. Sperrgitter der Kanalisation sägte er auf einer Länge von 800 Metern durch und tarnte sie. Eine Woche später holte er auf dem Weg seine Familie und den Vater in den Westen.

„Wenn ich das erzähle, ist alles sofort gegenwärtig und für mich sehr emotional“, erklärt Schreyer seinen jungen Zuhörern im Amplonius-Gymnasium. Ganz schön gefährlich sei die Flucht damals für ihn und seine Familie gewesen. „Hätte man mich geschnappt, wäre ich für mindestens zwölf Jahre ins Gefängnis gegangen.“ Straftatbestand: Menschenhandel. Hinzu kam Diffamierung der DDR, weil er in Medien über sein Leben im Osten berichtet hatte. Sein Appell nach einer Stunde kann leidenschaftlicher nicht sein. „Ihr habt den Eintritt ins Leben vor euch. Seid wachsam und kämpft für die Demokratie.“

Zeitzeuge Roland Schreyer, Jahrgang 1956, gehört zum Team „Koordinierendes Zeitzeugenbüro“ – eine gemeinsame Servicestelle der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, der Bundesstiftung Aufarbeitung und der Stiftung Berliner Mauer. Das Projekt wird gefördert von der Bundesbeauftragen für Kultur und Medien. Heute arbeitet Roland Schreyer als Pädagoge in der beruflichen Bildung.

Quelle: https://rp-online.de/nrw/staedte/rheinberg/buerger-der-ehemaligen-ddr-erzaehlt-rheinberger-schuelern-von-der-flucht_aid-59720911

Foto: F. Langhoff, nrz

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